Do 15 Sep
16:50
Summacumfemmer, Leipzig
Konstruktive Trojaner
Konstruktiver Ungehorsam muss viele heikle Momente im Bauprozess überwinden. Die verletzlichste Stelle liegt in Deutschland vermutlich irgendwo zwischen dem Ende der Leistungsphase 5 (Ausführungsplanung) und der frühen Leistungsphase 8 (hier: Bauüberwachung) – ergo im Übergang zwischen der zeichnerisch-planerischen Modellierung einer Idee und ihrer baulichen Manifestation. An dieser Stelle expandiert das Feld der Projektbeteiligten beträchtlich und der Ungehorsam muss sich gegen eine noch mal gewachsene Zahl widersprechender Stimmen behaupten: Ungehorsam trifft auf Unternehmer*innen, Subunternehmer*innen, Bauleiter*innen, Kalkulator*innen, Normierungen und Regeln der Technik. Wer in diesem Stimmendickicht Konventionen transzendieren möchte, benötigt geeignete Kommunikationswerkzeuge. Architektonische Mock‑Ups können solcherlei Werkzeuge sein. Mock‑Ups haben das Potential, durch ihre unskalierte Lebensgröße ein Stück weit bauliche Wirklichkeit zu kreieren, obwohl sie eigentlich noch der Sphäre des unverbindlichen Entwurfstadiums angehören [Vgl. Geiser 2021, 69]. Die bauliche (Beinahe‑)Wirklichkeit der Mock‑Ups aber schafft bereits bauliche Tatsachen, die weniger angreifbar sind als vorangegangene, zeichnerische Behauptungen. Mock‑Ups können somit plausibilisieren, überzeugen – aber auch überreden.
Üblicherweise tauchen Mock-Ups zu vorher festgelegten Zeitpunkten auf, an denen sich Prozessbeteiligte rückversichern möchten: die Besteller*in möchte noch einmal einen Vorabeindruck der gebauten Wirklichkeit zu sehen bekommen (im Extremfall durch ein 1:1‑Mock‑Up des gesamten Gebäudes, wie im Falle von Peter Behrens und Mies van der Rohes Entwürfen für das Kröller-Müller-Haus)[Vgl. Eidenbenz 2021, 15–16]. Oder die Architekt*innen möchten anhand eines Mock-Ups Gewissheit über Ausführungsqualität und Gewerkeschnittstellen erhalten (wie bei fast allen Fassaden-Mock-Ups größerer Bauvorhaben).
Demgegenüber stehen ungehorsame Mock-Ups: Sie werden von den falschen Instanzen zu falschen Zeitpunkten mit den falschen Mitteln gefertigt. So beispielsweise das Mock-Up einer „Wintergarten“-Fassade beim genossenschaftlichen Wohnhaus San Riemo in München. Statt von Unternehmer*innen wurde es von uns Architekt:innen gebaut. Dies geschah weit vor der Auftragsvergabe und nicht danach. Die Mittel waren falsch, weil wir anstelle von Stahl MDF verwendeten – jedoch mit dem Anschein von Stahl. Noch falscher war die Finanzierung, weil wir Architekt*innen das Mock-Up als Geschenk von uns an das Projekt betrachteten. Aber alles was vermeintlich falsch (und ungehorsam) war, half bei der Überwindung der kritischen Schwelle zwischen erdachter und realisierter Idee – und war in dieser Logik richtig. Der Ungehorsam der geplanten Konstruktion selbst verlangte eine kontinuierliche Fürsprache durch uns Architekt*innen, welche mit konventionellen Planungswerkzeugen wie Zeichnungen, Leistungsbeschreibungen und selbst skalierten Modellen nicht hörbar genug gewesen wäre. Erst mit dem Mock‑Up war eine Sprache gefunden, die angemessen laut für die Wahrnehmung durch alle Projektbeteiligten war, andererseits aber auch klar genug in ihrer Rhetorik, um Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit zu generieren. Das Mock‑Up setzte einen produktiven Kommunikationsprozess in Gang, in dessen Verlauf der Charakter des Ungehorsam immer stärker in den Hintergrund trat und von Klarheit über das gemeinsame Ziel überlagert wurde.
Mock-Ups dieser Art sind Werkzeuge der Selbstermächtigung. Es sind konstruktive trojanische Pferde, die sich subversiv in den Bauprozess einschleichen: nicht um zu zerstören, sondern des produktiven Schaffensdrangs wegen. Jeder kann sie bauen (oder bauen lassen): Auftraggeber*innen, Unternehmer*innen, Behörden – und eben wir Architekt*innen. Wenn konstruktiver Ungehorsam bedeutet, das Experiment zu wagen und dabei trotzdem zähneknirschend unsere Verflechtung mit dem Etablierten anzuerkennen, können wir einfach unsere Schreibtische verlassen und selber bauen. So groß sind Mock‑Ups zum Glück doch nicht.
Literatur
Eidenbenz, Michael. 2021. Lloyd’s 1:1. The currency of the Architectural Mock-Up. Zürich: gta Verlag.
Geiser, Reto. 2021. „Between Representation and Reality.“ In Archetypes: David K. Ross, herausgegeben von Reto Geiser. 69–81. Zürich: Park Books.
Anne Femmer
Anne Femmer (*1984) ist Architektin und zur Zeit Gastprofessorin an der TU Graz. Nach dem Studium arbeitete sie u.a. bei von Ballmoos Krucker Architekten und architecten de vylder vinck taillieu. 2015 gründete sie gemeinsam mit Florian Summa das Büro SUMMACUMFEMMER Architekt*innen in Leipzig. Parallel zu ihrer praktischen Tätigkeit war sie von 2015 bis 2018 Entwurfsassistentin an den ETH-Professuren von Christian Kerez und Jan de Vylder. 2020 unterrichtete sie mit Florian Summa ein Gaststudio an der TU München. Von 2020 bis 2022 betreut sie die Professur Integral Architecture an der TU Graz.
Florian Summa
Florian Summa (*1982) ist Architekt und zur Zeit Gastprofessor an der TU Graz. Nach dem Studium arbeitete er fünf Jahre bei Caruso St John Architects in London und Zürich und gründete 2015 gemeinsam mit Anne Femmer das Büro SUMMACUMFEMMER Architekt*innen in Leipzig. Parallel zur praktischen Tätigkeit war er von 2015 bis 2018 Entwurfsassistent an der ETH-Professur von Adam Caruso. 2020 unterrichtete er mit Anne Femmer ein Gaststudio an der TU München. Von 2020 bis 2022 betreut er die Professur Integral Architecture an der TU Graz.