Do 15 Sep

16:10

Albor Arquitectos, Havanna

A certain primal dignity: On the work of the independent practice Albor arquitectos in Cuba nowadays

Dem Projekt Casa Torre liegt eine sozioökonomische Realität zugrunde, die durch die enorme Verknappung von Mitteln und Ressourcen gekennzeichnet ist. Die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft prägte das Programm eines flexiblen und fortschrittlichen Einfamilienhauses. Das Ziel ist es, in Form einer Interpretation der Aufgabe mit der Errichtung eines Wachturms zu reagieren: Er bildet zugleich den konstruktiven Kern, von dem aus die Herausforderungen bewältigt werden können.

Der Zustand der Ungewissheit, der durch den Rahmen der Knappheit hervorgerufen wird, verbindet das Programmatische mit dem Konstruktiven. Was diesen Kontext darüber hinaus einzigartig macht, ist die Verbindung zwischen einer professionellen Herangehensweise und dem Volkstümlichen, da es auf Kuba keinen legitimierenden Rahmen für eine unabhängige Architekturpraxis gibt, wodurch die Praxis dann als experimentell und nicht zertifiziert verstanden werden kann. In Ermangelung klarer Bauvorschriften und einer Hierarchie der Zuständigkeiten ist es üblich, die  Beziehungen aller am Bau beteiligten durch mündliche Absprachen und praktische Handlungsanweisungen zu handhaben. Fast alle impliziten beruflichen Hierarchien zwischen Architekt*innen und den Bauherren werden in diesem Projekt aufgelöst, und die normalen Abläufe eines architektonischen Projektes – die lineare Struktur vom Entwurf bis hin zu den  technischen Konstruktionsplänen – werden in ein System der Richtungsvielfalt verwandelt.

Dieser Kontext wird zusätzlich durch den Verlust der Bautradition und das Fehlen des technischen Wissens auf dieser Baustelle bestimmt, (da es sich um einen Eigenbau des gesamten Teams für ein Teammitgliedes von Albor Arquitectos handelt, Anmerkung der Redaktion). Dies sind Faktoren, die zusammen mit der großen Instabilität des Materialmarktes die Planung technischer Lösungen unmöglich machen und dafür sorgen, dass die Anwesenheit der Architekt*innen bei der Arbeit sowie deren enge Beziehung zum Bauherren für die Verwirklichung des architektonischen Werkes unerlässlich ist.

Casa Torre katalysiert den Prozess der Optimierung und konstruktiven Anpassung der Realität, den Albor in den letzten Jahren entwickelt hat. Die Mehrdimensionalität dieses Prozesses schließt erwartungsgemäß materielle und soziale Konnotationen ein: So wohnten der Bauherr und seine Familie während der Arbeiten im bestehenden Haus im vorderen Teil des Grundstücks. Der aus einer ländlichen Gegend stammende Bauherr traf diese Vereinbarung im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Beruf; gleichzeitig hatten seine Frau und seine Tochter Zugang zur Grundversorgung. Der Bauherr und die Mitarbeiter vor Ort konnten die verfügbaren und beschafften Materialien in seine Obhut nehmen und er behielt Kontrolle über die Ausführung.

Diese spezifische Art der Erfahrung auf der Baustelle und diese Fürsorge ermöglichten es, dass in diesem Kontext der materiellen Unsicherheit technische Anpassungen auf einvernehmliche Weise während der gesamten Arbeit durchgeführt wurden: disparate Materiallieferungen, Zemente unterschiedlicher Herkunft, nicht zertifizierte Zuschlagstoffe und das Fehlen von Kalk und Zusatzstoffen erforderten die experimentelle Neudosierung der Mischungen für die Neuinterpretation traditioneller Techniken wie dem Verputzen von Böden und Wänden. Der Prozess der materiellen Neuformulierung der Idee, die sich aus dem Projekt ergibt und in unserem Fall als Paradigma behandelt wird, macht die dialektische Komponente der Neuformulierung der Idee als des übergeordnetes Konzepts untersuchenswert Das Projekt bleibt nach der Entwurfsphase lebendig: In Form einer Verbindung aus der Willensbekundung, welche während des gesamten Entstehungsprozesses fortbesteht, der Konzeption, die mit dem Material verbunden ist, und durch die Ausführung, die sich durch diese Form der Hingabe ausdrückt.

Es sind diese Arbeitsbedingungen, welche die Beziehung zwischen dem gelebten Handwerk und der Professionalität der Architekt*innen, dem täglichen Bauen vor Ort, der räumlichen Anpassung, dem Verständnis des Ortes über das ursprüngliche Projekt hinaus, was wir als die Schönheit des Handwerklichen durch Originalität verstehen. Wir wissen, dass es sich um eine diffuse Schönheit handelt, eine Schönheit des selbst Erschaffenen, eines weithin betrachteten Ortes, einer handwerklichen Anstrengung, einer wiederkehrenden Idee – vielleicht naiv –, die eine zentrale Wurzel der Architektur erforscht.

Albor Foto

© Albor Arquitectos

Albor Drawing

© Albor Arquitectos

Albor Arquitectos

Albor Arquitectos wurde 2010 in Cienfuegos, Kuba, gegründet und ist das Ergebnis des Zusammenschlusses einer Gruppe junger Architekt*innen, die ein gemeinsames Interesse an der Architektur und der kreativen Tätigkeit haben, die sie mit besonderem Augenmerk auf das Prozedurale und das Investigative ausüben. Bis heute hat Albor Arquitectos Projekte in verschiedenen Maßstäben realisiert, die vom Städtebau bis hin zum Bau kleiner architektonischer Werke und zum Möbeldesign reichen.

Albor nahm kürzlich an der Biennale von Havanna 2019 teil und wurde von Archdaily unter die „Best New Practices of 2021“ gewählt. Mehrere Arbeiten, wie Casa Torre, Casa Soporte und El Apartamento, wurden bei nationalen Architektursalons ausgezeichnet.

Carlos Manuel González Baute
(Cienfuegos, 1983)
Architekt der Zentralen Universität von Marta Abreu de Las Villas, Santa Clara, Kuba, 2007; Mitbegründer von Albor Arquitectos im Jahr 2010

Alain Rodríguez Sosa
(Cienfuegos, 1983)
Architekt der Zentralen Universität von Marta Abreu de Las Villas, Santa Clara, Kuba, 2007; Mitbegründer von Albor Arquitectos im Jahr 2010

Merlyn González García
(Villa Clara, 1994)
Architekt der Zentralen Universität von Marta Abreu de Las Villas, Santa Clara, Kuba, 2017; Partner seit 2017 

Camilo José Cabrera Pérez
(Villa Clara, 1991)
Architekt der Zentralen Universität von Marta Abreu de Las Villas, Santa Clara, Kuba, 2016; Partner seit 2016