Fr 16 Sep

12:00

Susanne Brorson, Rügen

Saisonale Wandbekleidungen

Wir entwerfen derzeit Gebäude, die alles können sollen – der Hitze standhalten, vor Kälte schützen, unter Zuhilfenahme technischer Lösungen, die ausgleichen müssen, was das Gebäude selbst nicht kann. Wenn wir im Hinblick auf den Klimawandel und sich verknappende Ressourcen das Ausmaß technischer Ausstattung vor allem in Wohngebäuden reduzieren wollen, sind bewährte passive Strategien interessant, die speziell für bestimmte Standorte geeignet sind.

Saisonalität ist eines der Hauptmerkmale des Ostseeklimas, das von −30° im Winter bis +30° im Sommer reicht, mit einer prognostizierten zukünftigen Häufung von Temperaturextremen. Diese klimatischen Bedingungen in Nordeuropa haben in der Vergangenheit eine saisonale Lebensweise geprägt, die sich in der traditionellen Architektur widerspiegelt. Die Nutzung „verschiedener“ Gebäude oder Gebäudeteile über das Jahr hinweg verteilt ist tief in der nordeuropäischen Kultur verwurzelt, in der die Nutzung von Winterhäusern und unbeheizten Sommerhäusern charakteristisch ist.

Eine weitere wichtige passive Strategie betrifft die saisonale klimagerechte Anpassung von Gebäuden. Im Rahmen meiner Forschungsarbeit zu vernakulärer Architektur im Ostseeraum bin ich auf viele Beispiele für temporäre oder saisonale Bauweisen gestossen. Von zusätzlichen Fensterscheiben im Winter (Finnland, Schweden), die im Sommer wieder entfernt werden, über „essbare“ Fassaden­bekleidungen oder Wanddämmungen (Norddeutschland und Dänemark, wo Haustiere im Winter mit der Wandisolierung gefüttert wurden) bis hin zum Anhäufen von Ästen und Gartenabfällen als zusätzliche Isolierung (baltische Staaten). Was auf den ersten Blick unkonventionell erscheint, ist ressourcenoptimiertes Bauen auf höchstem Niveau - nur dann eingesetzt, wenn es wirklich nötig ist, manchmal unter spontaner Verwendung von kompostierbarem Material, eben einfach das, was örtlich erhältlich oder gerade zur Hand ist.

Dabei sind „saisonale Wandbekleidungen“ als eine traditionell weitverbreite Methode der Klimaanpassung in der vernakulären Architektur des Ostseeraumes aufgefallen. Saisonale Wandbehänge, die in den windigeren und kälteren Monaten angebracht werden, konnten in verschiedenen Teilen des Forschungsgebiets nachgewiesen werden, meist aus Reet, Stroh, Seegras, Farnblättern, Efeu oder einfachem Holz oder Weidenzweigen. Durch überliefertes Wissen und die sorgfältige Beobachtung der Umwelt- und Klimabedingungen wussten die früheren Bewohner, wo und wie sie diese anbringen mussten – meist nicht notwendigerweise an allen vier Wänden des Hauses gleichermaßen.

Das „Seasonal Wall Dressing Experiment“ auf der Ostseeinsel Rügen zielt darauf ab, dieses jahreszeitliche Bauprinzip mit Hilfe eines modularen Fassadenverkleidungssystems zu erforschen. Eine Bekleidungsstruktur wurde an einem ostdeutschen Haus des Typs EW58 mit massiven Ziegelwänden aus dem Jahr 1952 angebracht. Durch CFD-Modellierung wurden bestimmte Bereiche der Fassade als besonders windexponiert und anfällig für verstärkte Konvektions­wärmeverluste identifiziert. Die 1 m × 1 m großen Holzrahmenpaneele der modularen Fassadenkonstruktion können von einer einzelnen Person leicht entfernt und mit verschiedenen Naturmaterialien individuell „bekleidet“ werden. Dadurch entsteht eine zusätzliche Dämmschicht und die Auskühlung durch Windeinwirkung wird verringert. Die Versuchsstruktur ist seit Sommer 2021 in Betrieb, und die Ergebnisse wurden das ganze Jahr über beobachtet. Die saisonale Bekleidung („Seasonal Dressing“) fungiert dabei nicht nur als passive Klimaanpassungsstrategie, sondern ist darüber hinaus ein Gestaltungselement, das in einen architektonischen Gesamtausdruck im Sinne von Sempers „Bekleidungstheorie“ integriert ist.

Literatur

Vitruvius. 1960. The Ten Books on Architecture (30 BC, translated 1914), Dover Publications.

Ewenstein, Boris, and Jennifer Whyte. 2009. “Knowledge Practices in Design: The Role of Visual Representations as ‘Epistemic Objects’” 30 (Organization Studies).

Käferstein, Johannes, ed. 2020. Wege Zum Raum: Konstruktive Denkweisen in Der Architekturausbildung. Quart Verlag.

Alberti, Leon Battista. 1991. On the Art of Building in Ten Books 1443. MIT Press.

Soussloff, Catherine M. 1997. The Absolute Artist. University of Minnesota Press.

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Susanne Brorson

Susanne Brorson schloss 2004 ihr Studium an der Bauhaus-Universität in Weimar mit einem Architektur Diplom ab. Es folgten Studien an der Universität der Künste in Berlin und im Ausland am Politecnico di Milano und an der Bartlett School of Architecture in London. Sie arbeitete mit Jarmund Visgnaes in Oslo, Stephen Taylor Architects in London und Gonzalez Haase AAS in Berlin, bevor sie ihr eigenes Büro STUDIO SUSANNE BRORSON auf der Ostseeinsel Rügen gründete. Susanne Brorson promoviert derzeit an der Technischen Universität Berlin zum Thema „Climatic design strategies in Baltic vernacular architecture“. Sie ist Gastprofessorin und Mitglied des akademischen Beirats an der RISEBA FAD University in Riga.