Fr 16 Sep

09:10

Meier Unger, Leipzig

Kalkboden

Auf der Suche nach einem geeigneten Bodenbelag – wie wir es zu diesem Zeitpunkt naiv nannten – für ein von uns in der Schweiz gebautes Stöckli, begaben wir uns auf eine diametrale Reise, weg vom augenscheinlichen Fortschritt gegenwärtiger Baukultur hin zu einer fast vergessenen Handwerkskunst: „Dem Kalkboden, Kieskalkboden oder auch Kalkmörtel genannt.“ 

Dieser Boden, mit Wurzeln in Syrien, ist seit über 10 000 Jahren Teil der abendländischen Kulturgeschichte und uns vor allem in seiner Ausführung als Kalkterrazzo bekannt gewesen. Auch wenn wir zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, dass Kalk das Bindemittel des Terrazzos war und welche Signifikanz dieser für die Zusammensetzung des Bodens hatte. 

Unsere Auseinandersetzung für ein geeignetes Bodenmaterial begann ebenfalls bei Terrazzo. Nur war uns die Geschichte und die Wandlung dieses Materials am Anfang unserer Reise unklar. Wir untersuchten in unterschiedlichen Zusammensetzungen aus Steinbeigaben in 1:1 Materialexperimenten die Möglichkeiten und scheiterten kläglich. Industriell gefertigter Terrazzo ist mit einer Vielzahl von Zusatzstoffen versehen, wo wir doch glaubten einen rein mineralischen Baustoff gefunden zu haben. Unter dem gesetzten Anspruch von Ausdruckskraft, einfacher Zusammensetzung und Ausführung wich die anfängliche Motivation.

Dieses Unbehagen verstärkte sich noch zusätzlich als wir realisierten, dass man beim ursprünglichen Terrazzo das Bindemittel Kalk im 19. Jahrhundert gegen Zement austauschte. Zwar bedeutete dies eine höhere Festigkeit und verkürzte Trockenzeit, jedoch verschwanden damit auch die bauphysikalischen Vorteile wie Feuchteregulierung, Elastizität oder das fußwarme Stehen auf einem steinernen Boden. 

Wir akzeptierten diesen Umstand nicht und hatten das große Glück die Bekanntschaft mit einem Handwerker zu machen, der uns das fast vergessen Wissen und die Handwerkstechniken nahebrachte und uns über die gesamte Bauzeit begleitete. Er selbst, gelernter Steinmetz aus Twann in der Schweiz, fand und studierte seine Werkzeuge und Techniken in Italien und brachte diese Kenntnisse in die Schweiz. 

Was die Baufamilie mit Helfenden unter seiner Anleitung schlussendlich realisierte, war ein 12 cm starker Kalkmörtelboden aus einem Gemisch von Rundkies, Split und Brandkalk. Handfeucht mit Schubkarren eingebracht wird er ohne jede Fuge oder Dichtstreifen an die Holzwände herangearbeitet und in einer Vielzahl von Arbeitsgängen verdichtet. Abschließend wurden mit unterschiedlichen natürlichen Pigmenten versehene Kalkschlämmen aufgespachtelt und so die Malerei erzeugt, die die Einzigartigkeit dieser Handwerkskunst und ihre Schönheit zur Vollendung brachte. Dass der Boden nicht aus Platten gelegt, nicht gegossen, sondern selbst ein bemaltes eigenes bauliches Element und nicht reine Oberfläche ist, fasziniert uns.

Der Arbeitsaufwand und die Zeit mit der solch ein Boden hergestellt wird, sind enorm und waren uns nur aufgrund örtlicher Gegebenheiten und das Vertrauen der Baufamilie möglich. Das Potential, einen solchen Boden zu einer Renaissance zu verhelfen, sehen wir dennoch. Und das nicht nur aufgrund seiner Schönheit, sondern auch, weil seine bauphysikalischen Vorteile, die Elastizität auch auf schwingenden Unterkonstruktionen, die fugenlose Verlegung der Rohmasse, die Fähigkeit zur Wasserregulierung von angrenzenden Bauelementen und der Luft, die Möglichkeit Abbruchmaterial zu recyceln und die hygienischen Vorteile aufgrund seines basischen pH-Wertes resistent gegen Pilzbefall zu sein, in der Reaktivierung von Bestandsgebäuden eine maßgebliche Rolle einnehmen könnte. Die konstruktiven wie ästhetischen Potentiale gilt es also zu untersuchen, zu nutzen und den Kalkboden baulich wiederzubeleben. 

Meier Unger Fofo

© MeierUnger

Meier Unger Drawing

© MeierUnger

Jan Meier

Jan Meier ist Architekt und Gründer von MeierUnger Architekten in Leipzig. Von 2000 bis 2007 studierte er Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar. Er arbeitete u.a. als Architekt bei Bearth & Deplazes Architekten in Chur und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Architektur und Konstruktion bei Prof. Andrea Deplazes, ETH Zürich. 

Lena Unger

Lena Unger ist Architektin und Gründerin von MeierUnger Architekten in Leipzig. Sie studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar (2006–2010) und an der ETH Zürich (2010–2012). Sie arbeitete u.a. als Architektin bei Conen Sigl Architekten in Zürich und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt an der Professur Entwurf und Wohnungsbau bei Prof. Dr. Elli Mosayebi und Prof. Johannes Ernst. Seit 2021 ist Sie Vertretungprofessorin für Stadtbaukunst und Entwerfen an der TU Kaiserslautern.