Constructive Disobedience
1418 gewann Filippo Brunelleschi den Wettbewerb zur Realisierung der Florentiner Domkuppel von Santa Maria del Fiore mit einem Entwurf, der die größte jemals gemauerte Kuppel ohne materialaufwendige Lehrgerüste vorschlug. Als er danach gefragt wurde, wie er seine Idee der Doppelschalenkonstruktion genau ausführen wolle, antwortete er in seinem dispositivo zu Baubeginn: „denn beim Mauern lehrt die Praxis, wie man fortzufahren habe“—„perché nel murare la pratica insegna quello che s’ha a seguire“.¹
2019 formuliert Elli Mosayebi in ihrer Antrittsvorlesung an der ETHZ „Zwölf Thesen zur Architektur der zweiten Moderne“. These sieben lautet: „Die Zweite Moderne steht für Experimentalismus, um Denkkorsette zu sprengen und neue Handlungskonzepte für die Gegenwart zu gewinnen.“²
Die Domkuppel von Filippo Brunelleschi ebenso wie der Tour d’Eiffel der Konstrukteure Koechlin und Sauvestre oder der Geodesic Dome von Buckminster Fuller sind Beispiele für einen solchen Experimentalismus. Auch wenn sie nicht als Forschungsprojekte konzipiert wurden, sind sie dennoch epistemischeObjekte: Sie verkörpern gebautes Wissen. Als Prototypen, Langzeitexperimente und in ihrer physisch-räumlichen Präsenz werden sie zu Meilensteinen des konstruktiven Fortschritts. Angesichts der dringlichen Klima- und Ressourcenfragen gilt heute mehr denn je, dass die Weiterentwicklung konstruktiver Möglichkeiten wagemutige Experimente in der Baupraxis erfordern. Wer allerdings aus einer Idee zur Architektur heraus einen Vorschlag zur Neuerfindung, Abwandlung, Optimierung oder Reduktion einer Konstruktion formuliert, kennt das große Nein zum Experiment auf der Baustelle. Ergebnisoffen zu arbeiten gilt einerseits als Prämisse allen Forschens, widerspricht jedoch andererseits den Interessen der Bauherr*innen und der ausführenden Firmen. Während die Wissenschaft fordert, Ergebnisse aus Ideen als provisorisches Wissen zu publizieren, zu testen und im Falle einer Falsifizierung aufeinander aufbauend zu überschreiben, scheint sich im Konstruieren das fehlerfreie Bauen als vermeintlich einzig richtiges Vorgehen in DIN- und BIM- Detailvorschlägen einzuschreiben. Wie aber können wir unsere baulichen Standards angesichts der Klimakrise ernsthaft rekalibrieren und erweitert neu formulieren?
Im konstruktiven Experiment überlagert sich das gesellschaftliche Interesse, zukunftsbewusst zu bauen, gleichsam exemplarisch mit einer genuin architektonischen Entwurfspraxis, welche in der Zuspitzung einer räumlichen Idee die Deckungsgleichheit oder das bewusste Nebeneinander aus konstruktiver Verfasstheit und architektonischem Ausdruck³ verfolgt. Hierbei treten die Synthesepotentiale und die oft sprunghaften Metamorphosen der federführenden Disziplin Architektur im Entwicklungsprozess einer Lösung offen zu Tage. Um die erfolgreichen Wege zur Erweiterung heutiger Normengerüste durch Entwurfs- und Konstruktionsgeschehen zu beleuchten, scheinen Zeitpunkt und Kontext eines Experimentes von Bedeutung zu sein:
Das Problem „resolving the conflict“
Der Prozess startet mit einer kritischen Beobachtung zu problematischen Baustandards, welche sich unter aktueller Marktlogik alternativlos verschärfen.
Die Idee „another mad idea“
Ein Entwurfskonzept provoziert eine Idee, deren Realisierung konstruktiv noch nicht durchdacht und erprobt ist, wodurch die Umsetzung als offen gilt.
Der Einzelfall „the value of speculation“
Während des Entwerfens erscheinen seismische Stellen, welche die Grundidee in den Grenzbereich des Baubaren verschieben und sich in den laufenden Planungs- und Konstruktionsprozessen bis hin zur Baustelle als Prüfmomente der architektonischen Intention erweisen.
Im Entstehungsgrund einer Forschungsfrage ist die Methode—der Weg nach—bereits enthalten. Zu den typischen Phasen der Lösungssuche zählen unter anderem die Befragung von Referenzprojekten, Handwerker*innen und Expert*innen („gefundene Schätze“), Entwurfsvarianten (exploratorisch), Mock-ups und Prototypen (gehemmte Experimentalsysteme)⁴. Recherchen durchleuchten scheinwerferartig die Bau- und Konstruktionsgeschichte nach möglichen Lösungsansätzen und deren Transformationspotential in die gültigen Normen. In diese Wissenslücke wird von Projekt zu Projekt direkt „hinein experimentiert“. Im Normenzusammenhang kann die Zulassung im Einzelfall oder ein sogenanntes Freistellen der Bauherren von den gültigen Ausführungsvorschriften notwendig sein. Der Einzelfall kann scheitern oder gelingen—oder auch zuerst gelingen und dann scheitern und Reparaturzyklen, Justagen nach sich ziehen. Durch Messungen und Monitoring kann das Ergebnis wissenschaftlich evaluiert werden. Publikationen, Übernahmen und Weiterentwicklungen in Nachfolgeprojekten zeugen vom Erfolg des gewählten Ansatzes.
#Constructive Disobedience lädt Architekt*innen, Ingenieur*innen, Hersteller- und Handwerker*innen ein, einen spezifischen Einblick in ihre konstruktiven Experimente zu präsentieren und in den Austausch zu bringen. Es gilt Handlungsanweisungen des konstruktiven Ungehorsams—dispositivi—zu finden, wie wir das konstruktive Experiment aus dem Kern der Profession heraus ermöglichen, methodisch begreifen, als entwerfendes Forschen etablieren und damit akademisch und auf der Baustelle in die Anerkennung bringen können. Welche Kultur des Risikos kann und muss im Dienste einer verantwortlichen Architekturproduktion etabliert werden und wie können wir davon leben?
Credits
1 Corrado Verga: Dispositivo Brunelleschi, 1420, Crema 1978.
3 Andrea Deplazes: Architektur Konstruieren, Zürich 2005, Vorwort.
4 Michael Eidenbenz: Solving Lloyd’s – Zur Rolle von 1:1 Mock-Ups im Bauprozess, 2018.
Prof. Helga Blocksdorf
TU Braunschweig, Institut für Baukonstruktion
Helga Blocksdorf leitet als freischaffende Architektin das Büro Helga Blocksdorf / Architektur in Berlin, gegründet 2013, seit 2022 berufen in den BDA Berlin. Projekte des Büros sind unter anderem das Erlebnisportal Weimar, der Umbau einer Scheune in Rieckshof und das Wohn- und Atelierhaus Rosé, welche international wahrgenommen, prämiert und weitreichend publiziert werden. Die Erzeugung architektonischer Qualität mittels anspruchsvoller und nachhaltiger Konzepte in Entwurf und Konstruktion liegen allen Projekten zu Grunde. 2021 wurde sie als Professorin und Leitung des Instituts für Baukonstruktion an die TU Braunschweig berufen. Davor war sie als Gastprofessorin für Konstruktives Entwerfen an der Bauhaus-Universität Weimar tätig und hat 2007 bis 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin im Team von Prof. Ute Frank mitgewirkt. Im Jahr 2019 wurde sie als Doktorandin in das Programm Entwurfsbasierte Promotion „PEP“ aufgenommen. Zwischen 2001 und 2003 war sie Teil der Künstler*innengruppe après-nous, welche internationale Ausstellungen und Installationen in Städten wie New York, Berlin und Kopenhagen realisierten. Nach ihrem Diplom an der UdK Berlin sammelte Helga Blocksdorf fundierte Kenntnisse in der Bauleitung, Ausführungsplanung und Wettbewerbsbearbeitung bei Staab Architekten, Berlin.
Katharina Benjamin
digitale Bildungsplattform Kontextur
Katharina Benjamin studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre 2018 fertiggestellte Masterarbeit trägt den Titel „Architektur als Medium der Erinnerung – eine Rekonstruktion der Ez-Chaim Synagoge Leipzig“. Arbeitserfahrung sammelte sie u.a. bei Peter Zumthor in Haldenstein (CH) und als Projektkoordinatorin des XIV. Internationalen Bauhaus-Kolloquiums an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwerfen und Konstruieren I an der TU Dresden und am Institut für Baukonstruktion bei Prof. Helga Blocksdorf. Im Jahr 2017 gründete sie die digitale Architekturplattform Kontextur. Sie ist also Teil des internationalen Forschungsprojekts Centre of Documentary Architecture (CDA).
Prof. Dr. Matthias Ballestrem
HCU, Architektur und experimentelles Entwerfen
Matthias Ballestrem ist Architekt und Professor für Architektur und experimentelles Entwerfen an der HafenCity Universität in Hamburg. Seit 2006 in der Entwurfslehre an verschiedenen Institutionen, u.a. Cornell University, CIEE GAD Berlin Program und 2013–2017 an der TU Berlin als Gastprofessor für Baukonstruktion und Entwerfen. In dieser Zeit Forschung zu Infraleichtbeton und Promotion zu impliziter visueller Raumwahrnehmung. Im Jahr 2011 Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Mitgründer des Programm Entwurfsbasierte Promotion (PEP), aktives Mitglied im europäischen CA2RE Netzwerk zu „Design Driven Doctoral Research“, Mitglied der Research Academy der EAAE und Mitglied des Interdisziplinären Forum Neurourbanistik. Forschungsschwerpunkte: „Design-based research“, experimentelles Entwerfen, Raumwahrnehmung, räumliche Komplexität und die architektonischen Typologien von Innenräumen.